Juni 2025

Drei Tage voller Innovation, Austausch und Inspiration: Die siebte Ausgabe des GREENTECH FESTIVAL (GTF) lockte über 7.000 Besucher:innen auf das Gelände der Messe Berlin. In den Hallen präsentierten mehr als 300 Speaker:innen und 100 Partnerunternehmen ihre konkreten Ansätze und Technologien für eine nachhaltige Zukunft. Im Fokus der diesjährigen Veranstaltung: die Dekarbonisierung der Industrie, die Positionierung Berlins als führendes Greentech-Zentrum sowie der Schulterschluss zwischen Wirtschaft und Politik zum Thema Nachhaltigkeit.

Marco Voigt, Gründer des GTF, zieht ein positives Fazit: „Inmitten politischer und wirtschaftlicher Unsicherheiten sendet das GREENTECH FESTIVAL 2025 ein starkes Signal: Wir können Wandel gestalten – gemeinsam mit der Wirtschaft, Politik und Expert:innen, die wirklich etwas bewegen wollen. Wir sehen hier nicht nur Technologien, sondern Haltung und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.“

Glamouröses Opening: 18. GREEN AWARDS feiern Nachhaltigkeit und Innovation

Den feierlichen Auftakt des Festivals bildeten die GREEN AWARDS, die in diesem Jahr ihr 18. Jubiläum feierten. Vor rund 240 geladenen Gästen wurden herausragende Projekte und Unternehmen für ihren Beitrag zu einer nachhaltigeren Welt ausgezeichnet. Moderatorin Johanna Klum führte durch den Abend, während Schauspielerin Katja Riemann mit einer eindrucksvollen Rede für einen Gänsehautmoment sorgte. Musikalisch wurde der Abend von der Band „The Jeremy Days“ begleitet. Als Laudator:innen traten Dorothee Bär (Bundesministerin für Forschung, Technologie und Raumfahrt), Luca Vasta (Musikerin) und Torsten Albig (Geschäftsführer External Affairs Germany, Philip Morris International) auf.

Bundesministerin Bär eröffnete ihre Rede mit den Worten: „Bereits 14 Tage nach meinem Amtsantritt ein solches Highlight wie die GREEN AWARDS erleben zu dürfen, ist ein großes Glück – nicht nur für mich persönlich, sondern auch für Deutschland. Diese Preisverleihung beweist, welches Potenzial in unserem Land steckt und zu welchen Innovationen wir fähig sind. Jahr für Jahr präsentieren sich hier neue Champions, die Deutschlands Innovationskraft unter Beweis stellen.“

In der Kategorie „Mobilität & Transport“ überzeugte das Hightech-Unternehmen DeepDrive, das mit seiner patentierten Elektromotor-Technologie die Reichweite von E-Fahrzeugen um bis zu 20 Prozent steigert. Der Preis in der Kategorie „Energie & Infrastruktur“ ging an das CleanTech-Start-up 1Komma5°, das mit seinen skalierbaren Energielösungen zur schnellen Umsetzung der Energiewende beiträgt. In der Kategorie „Industrie & Materialien“ wurde das KI-Unternehmen Dunia Innovations ausgezeichnet, das mit datengestützter Materialforschung neue Wege für saubere Energiequellen erschließt.

Vordenker:innen auf der GTF CONFERENCE: Wissen trifft Wandel

Die zweitägige GTF CONFERENCE bot eine Bühne für wegweisende Ideen und Debatten. Internationale Expert:innen und Führungspersönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik diskutierten über aktuelle Herausforderungen und konkrete Lösungen der grünen Transformation. Den Auftakt machte Johan Rockström, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. In seiner Keynote warnte er vor dem ungebremsten Fortschreiten der Erderwärmung und betonte die Dringlichkeit, Kipppunkte zu vermeiden. Formate wie das GREENTECH FESTIVAL seien wichtig, um Expert:innen und Unternehmen zusammenzubringen und konkrete Lösungsansätze voranzutreiben.

Auch Kai Wegner, Regierender Bürgermeister von Berlin, betonte die Bedeutung nachhaltiger Innovationen für die Hauptstadt und darüber hinaus: „Die Metropolregion Berlin-Brandenburg ist Vorreiter im Bereich Greentech. Wirtschaft, Digitalisierung und Nachhaltigkeit müssen zusammengedacht werden, wenn wir Berlin und auch die Region zukunftsfest aufstellen wollen. Das GREENTECH FESTIVAL, das sich aus gutem Grund das Motto ,Together We Change‘ gegeben hat, bringt die entscheidenden Akteure aus Wirtschaft, Start-ups und Politik zusammen, um gemeinsam tragfähige Lösungen für Innovationen und eine nachhaltige Stadtentwicklung zu erarbeiten.“

Zu den Highlights zählten unter anderem folgende Panels:

  • Food for Thought: Will Tech Solve our Growing Food Crisis? – Internationale Stimmen von Start-ups, NGOs und Großunternehmen wie BASF zeigten innovative Wege zur Ernährungssicherung.
  • Is ESG Still Relevant? – Eine kritische Auseinandersetzung mit der Zukunft von ESG, u.a. mit Atlassian, der Deutschen Bank, Lufthansa und dem Sustainable Finance-Beirat.
  • Mobility Matters: Opportunities in Times of Changes – Mit Vertreter:innen von Uber, Stadler Rail, Volkswagen, dem Berliner Senat und BCG wurde über neue Mobilitätskonzepte diskutiert.
  • Trump, Trade Shocks & Sustainability: What’s Next for EU Business? – Mit Maja Göpel, Cathryn Clüver Ashbrook (Bertelsmann Stiftung) und Franziska Brantner (Bündnis 90/Die Grünen), moderiert von Steven Erlanger (New York Times).

Technologische Innovationen in der GTF EXHIBITION

In der GTF EXHIBITION präsentierten Konzerne, Mittelständler und Start-ups ihre neuesten Lösungen – von klimafreundlicher Mobilität über nachhaltige Infrastruktur bis hin zu digitalen ESG-Tools. Die Ausstellung war ein Schaufenster für den aktuellen Stand grüner Technologie – praxisnah, interaktiv und visionär.

Zu den Highlights zählten die vollelektrischen Fahrzeuge von Polestar, Industrievorreiter wie Max Bögl, Drees & Sommer und BEW sowie grüne Logistiksysteme von Stadler Rail und der DHL Group. Weitere Aussteller wie die Hansgrohe Group, 1Komma5°, Fastned, Sirplus und FreeNow unterstrichen die Vielfalt nachhaltiger Ansätze in unterschiedlichsten Branchen.

Ein neuer thematischer Schwerpunkt war das HOUSE OF ESG – ein kuratierter Bereich für Unternehmen, die ihre ESG-Kompetenz vorstellten. Mit dabei: Siemens, TÜV Rheinland, die Funke Mediengruppe, Tanso und osapiens.

Start-up-Förderung und Greentech-Nachwuchs im Fokus

Im START-UP LAND, unterstützt von PMG, präsentierten 35 ausgewählte Start-ups ihre Ideen und Geschäftsmodelle – kostenfrei und mit maximaler Sichtbarkeit. Mit dabei waren unter anderem Releaf Paper, Skarper, EcoLocked, The Yellow Sic und viele mehr. In dynamischen Formaten wie dem GREEN START-UP SLAM und dem GREEN INVESTORS CRUNCH kamen Gründer:innen mit Investor:innen, Expert:innen und potenziellen Partner:innen ins Gespräch – für viele der Startschuss zu neuen Kooperationen und Skalierungsmöglichkeiten.

Ein weiterer Höhepunkt: der Career Day am 22. Mai. Der speziell für Studierende und Berufseinsteiger:innen konzipierte Tag bot Orientierung in der grünen Arbeitswelt – mit Karriereberatung, Networking-Sessions und direkten Kontakten zu Unternehmen mit Fokus auf Nachhaltigkeit.

Tobias Assies, Gesellschafter des GTF betont die Bedeutung von Nachwuchsförderung im Greentech-Bereich: „Es ist uns ein großes Anliegen, junge Talente und Unternehmen zu fördern und ihnen den Einstieg in die Branche zu erleichtern. Formate wie das START-UP LAND und der Career Day zeigen, wie wichtig es ist, Räume für Austausch, Sichtbarkeit und Entwicklung zu schaffen.“

Ausblick auf die zweite Jahreshälfte: GTF kündigt neue Forenreihe für 2025 an

Maximilian Wasler, CEO des GTF kündigte auf der Bühne eine neue Veranstaltungsreihe für Herbst 2025 an: die GTF Foren. Die themenspezifischen Events bieten Raum für vertiefte Diskussionen und Kooperationen rund um die grüne Transformation. In exklusivem Rahmen mit maximal 150 Teilnehmenden bringen sie Expert:innen aus Bereichen wie Energie, Mobilität und digitale Infrastruktur zusammen.

„Mit den GTF Foren schaffen wir ein Format, das den Dialog dort vertieft, wo konkrete Lösungen gebraucht werden – fokussiert, partnerschaftlich und auf Augenhöhe“, so Maximilian Wasler. „Unsere Mission endet nicht mit dem Festival – sie beginnt dort erst richtig. Die Foren sind unser nächster Schritt, um Nachhaltigkeit dauerhaft in Wirtschaft und Gesellschaft zu verankern.“

Die ersten angekündigten Themen umfassen unter anderem „Energy Storage Solutions for Industry & Commercial Buildings“, „Sustainable Data Centres: Sustainable AI“ und „Regulation & Reporting in the Building Industry“. Die Veranstaltungen finden ab Herbst 2025 in Berlin statt.

Glossar am Ende des Artikels.

„Die Stadt denkt schon für dich mit – ob du willst oder nicht.“

Wer morgens durch Berlin-Mitte läuft, denkt nicht sofort an Künstliche Intelligenz. Zwischen E-Rollern, Coffee-to-go und gestressten Menschen in Leggings wirkt der Alltag ziemlich analog. Und doch ist die Stadt längst hybrid. Unter der Oberfläche ihrer physischen Infrastruktur läuft eine zweite Schicht mit – ein digitales Betriebssystem, das immer intelligenter wird. Es organisiert Verkehrsflüsse, überwacht Risikozonen, verteilt Ressourcen und plant teilweise sogar die nächste Bebauung. Die Stadt denkt. Und sie lernt. Nur fragt sie niemanden, ob das okay ist.

„Algorithmen sind nicht neutral – sie spiegeln gesellschaftliche Verzerrungen.“ – Lara Benkhoff, Stadtethikerin.

Predictive Policing: Minority Report, aber real

Beginnen wir mit dem offensichtlich Unheimlichen: Predictive Policing. Das Prinzip ist einfach – mithilfe historischer Daten, Kriminalitätsstatistiken und Echtzeitbeobachtungen berechnet eine KI, wo es „bald wieder knallen“ könnte. In den USA längst Realität, testweise auch in Europa. Was wie ein Effizienzversprechen klingt („Prävention statt Reaktion“), führt oft zu Zirkelschlüssen: Weil ein Stadtteil als „Problemzone“ markiert wurde, schickt man mehr Polizei hin – was wiederum mehr Vorfälle produziert – was die KI dann als Bestätigung liest. Eine selbsterfüllende Statistik-Spirale.

Der Soziologe David Lyon nennt das „surveillance capitalism with urban flavor“. In deutschen Städten wie Hamburg oder Köln sind Pilotprojekte in der Diskussion – unter dem Radar, versteht sich. Denn wer will schon in einer Stadt leben, die dich algorithmisch vorverurteilt?

Verkehrsfluss à la Skynet

Weniger bedrohlich, aber ebenso KI-gesteuert, ist der Bereich Mobilität. Ampelschaltungen, Busfrequenzen, Shared Mobility – das alles wird zunehmend datengetrieben optimiert. Klingt erstmal gut: weniger Stau, mehr Effizienz, weniger Emissionen. Aber auch hier: Wer entscheidet, was optimiert wird – und für wen?

Ein Beispiel: Wenn eine Stadt KI-gestützt erkennt, dass reiche Bezirke morgens stark frequentiert werden, werden dort eventuell mehr Verkehrsmittel angeboten. Klingt logisch. Aber ist das auch gerecht? „Datenbasierte Entscheidungen haben die Tendenz, bestehende Machtverhältnisse zu verstärken“, sagt die Stadtethikerin Lara Benkhoff im Gespräch mit roadmap. „Denn Algorithmen sind nicht neutral – sie spiegeln gesellschaftliche Verzerrungen.“

KI-Stadtplanung: Beton aus dem Baukasten

Und dann ist da noch die neue Krone der Urban-Tech-Schöpfung: KI-generierte Stadtplanung. In den Niederlanden arbeiten Planungsbüros mit Machine-Learning-Tools, die neue Stadtteile auf Basis von Parametern wie Sonnenlicht, Schallschutz oder Energieeffizienz entwerfen. Ganze Quartiere entstehen aus dem Rechenzentrum – effizient, nachhaltig, durchdesignt.

Aber auch steril? „Die Gefahr besteht, dass wir eine neue Ästhetik der Glattheit erschaffen“, meint Benkhoff. „Wenn alles nur noch nach Optimierung funktioniert, geht das Chaotische, das Überraschende verloren – das, was eine Stadt eigentlich lebendig macht.“ Statt organischem Wachstum erleben wir dann algorithmische Gestaltungsdiktate – den urbanen Äquivalent zu KI-generierten Stockfotos: hübsch, aber seelenlos.

Wem gehört der Stadtkörper?

Was bei all dem vergessen wird: Eine Stadt ist kein rein funktionales System. Sie ist ein soziales Wesen, ein politischer Raum, ein widersprüchlicher Organismus. KI hingegen liebt Klarheit, Zielorientierung, Muster. Sie kann Risiken berechnen – aber keine Utopien spinnen. Sie versteht keine Ironie, keine Aneignung, keinen Street-Style. Und sie kennt keine Armut, außer als Variable.

Die Frage ist also: Wer gestaltet den Stadtkörper von morgen? Tech-Unternehmen wie Sidewalk Labs (Alphabet) hatten große Pläne, ganze Stadtteile in Toronto umzubauen – mit Sensoren, Kameras, Datentracking. Die Bewohner:innen rebellierten. Das Projekt wurde eingestellt.

Was bleibt?

Urban AI ist keine Dystopie. Aber sie ist auch kein Heilsbringer. Sie ist Werkzeug – mit enormer Reichweite. Die große Herausforderung besteht darin, sie nicht einfach „machen zu lassen“, sondern eine öffentliche Debatte darüber zu führen, was Stadt eigentlich bedeuten soll.

Wollen wir Quartiere, die sich selbst regulieren – oder solche, in denen es Platz für das Ungeplante gibt? Wollen wir smarte Überwachung oder dumme Freiheit? Wollen wir, dass KI entscheidet, wo wir wohnen, wie wir fahren, wann wir sicher sind?

Die Zukunft der Stadt wird gerade geschrieben. Nicht mit Spraydose und Pflasterstein – sondern mit Codezeilen und Trainingsdaten. Höchste Zeit, dass wir mitreden.

Glossar: Urban AI und smarte Städte erklärt

Urban AI

Künstliche Intelligenz im städtischen Raum. Bezieht sich auf den Einsatz von Machine Learning, neuronalen Netzwerken und automatisierten Entscheidungsprozessen zur Steuerung urbaner Systeme – von Verkehr über Stadtplanung bis zur öffentlichen Sicherheit.


Predictive Policing

Ein datenbasiertes System zur „vorausschauenden“ Kriminalitätsbekämpfung. Durch Auswertung vergangener Vorfälle soll vorhergesagt werden, wo und wann ein Verbrechen wahrscheinlich passiert – oft problematisch, weil es bestehende Vorurteile algorithmisch reproduziert.


Smart City

Buzzword der Urbanisierung seit den 2010ern. Gemeint ist eine digital vernetzte Stadt, in der Infrastruktur, Mobilität, Energieversorgung und Kommunikation durch Technik effizienter und nachhaltiger gemacht werden sollen. Oft ohne demokratische Kontrolle.


Generative Urbanism

Ein Planungsansatz, bei dem urbane Räume durch generative KI gestaltet werden – also durch Algorithmen, die selbstständig neue Layouts, Architekturen oder Verkehrsnetze „entwerfen“, basierend auf vordefinierten Parametern wie Klima, Bevölkerungsdichte oder Lärm.


Surveillance Capitalism

Begriff der Soziologin Shoshana Zuboff. Beschreibt ein ökonomisches System, in dem persönliche Daten – auch aus dem öffentlichen Raum – zur kommerziellen Verwertung gesammelt und verwendet werden. In der Smart City wird Überwachung zur Infrastruktur.


Stadtethik

Interdisziplinäres Forschungsfeld an der Schnittstelle von Urbanistik, Soziologie und Philosophie. Behandelt Fragen wie: Wem gehört die Stadt? Wer darf mitbestimmen? Was ist ein gerechter urbaner Raum? Besonders relevant bei KI-Einsatz, da dieser selten hinterfragt wird.

„Alt werden ist das neue Ausgehen.“

In einer ehemaligen Nudelfabrik in Leipzig-Connewitz steht ein Wohnprojekt, das aussieht wie ein Boutique-Hotel für Designliebhaber:innen. In der Küche: ein Terrazzo-Waschbecken. Im Flur: eine kleine Ausstellungsfläche für wechselnde Kunstprojekte. An der Tür: Klingelschilder mit Vornamen und Pronomen.
Nur: Die Jüngste hier ist 48. Die Älteste 87.

Willkommen im Zeitalter der ästhetisierten Altersarchitektur – oder, wie es die Bewohner:innen nennen: „kuratiertes Altern“.

Aging with style

Millennials altern. Und sie tun es nicht in Stille.
Sie googeln „Co-Housing“, abonnieren Podcasts über Care-Strukturen und posten Moodboards mit altersgerechten Möbeln auf Pinterest. Die Boomer hatten Eigentum – Gen Y hat ästhetische Vorstellungen davon, wie man gepflegt grau wird.

Das Pflegeheim von morgen? Kein klinischer Albtraum mit Rollos in Beige – sondern ein durchdesigntes Gemeinschaftsprojekt mit Flex-Zimmern, geteiltem Biogarten und einer eigenen Insta-Page.
„Alt werden ist das neue Ausgehen“, schreibt jemand auf Threads. Und er hat nicht ganz unrecht.

Das Ende der Einsamkeit in Eiche rustikal

Die klassischen Modelle – stationäre Pflege, betreutes Wohnen, Mehrgenerationenhaus – erleben gerade eine stille Revolution. Nicht durch die Politik, sondern durch kreative Selbstermächtigung.
Architekt:innen, Designer:innen und Sozialutopist:innen arbeiten an neuen Formaten: modulare Wohnkomplexe, soziale Kollektive, Care-Commons, oft initiiert von Menschen, die selbst noch lange nicht pflegebedürftig sind – aber auch nicht mehr 25.

„Wir wollten nicht darauf warten, dass der Staat uns irgendwann eine Lösung serviert“, sagt Tanja Malz, Architektin und Mitgründerin von ‘zeitlos wohnen’, einem Projekt, das altersfreundliches Bauen mit Raum für Kultur und Nachbarschaft verbindet. „Also haben wir’s selbst gemacht.“

Ihr Projekt in Hamburg-Altona wurde 2024 mit einem Architekturpreis ausgezeichnet. Die Jury lobte das „nicht institutionell wirkende Raumgefühl“. Man könnte auch sagen: Hier riecht es nach frischem Kaffee, nicht nach Desinfektionsmittel.

Flexibilität statt Flurlicht

Zentrale Idee vieler neuer Konzepte: Flexibilität. Die Wohnungen sind modular – können zusammengelegt oder getrennt werden. Gästezimmer werden zu Pflegeräumen. Ateliers zu Ruheoasen.
„Wir haben früh verstanden: Altern ist nicht linear. Man will nicht von 0 auf 100 ins Pflegebett, sondern Übergänge gestalten“, erklärt Malz.

Deshalb sind viele Projekte prozessorientiert. Es gibt keine starren Pflegestufen, sondern ein wachsendes Netzwerk aus Unterstützung – von Physiotherapie über gemeinsames Kochen bis zur digitalen Sprechstunde mit einer Pflegekraft. Alles mit Designanspruch, versteht sich.

Der Kurator für den Hausflur

Besonders spannend: die Rolle von Kultur in diesen Projekten.
In einem Projekt in der Uckermark wird der Hausflur von einer Kuratorin bespielt – mit wechselnden Ausstellungen von Bewohner:innen oder eingeladenen Künstler:innen.
In einem anderen gibt es ein offenes Lesecafé mit DJ-Pult, das tagsüber für Lesekreise und abends für kleine Konzerte genutzt wird.

„Die Idee ist: Wenn das Leben ruhiger wird, muss die Umgebung nicht tot sein“, sagt Jonas Wilken, Designer für raumbezogene Altersformate. Er sieht seine Arbeit als „soziales Design für das Danach“.
Und fügt hinzu: „Altern ist nicht der Endgegner – es ist einfach ein anderer Rhythmus.“

Was steckt dahinter?

Dass sich ein neuer Umgang mit Alter und Pflege entwickelt, hat viele Gründe:

  • Demografie: Die Babyboomer gehen in Rente, und die nächste Generation schaut sich das genau an.
  • Pflegenotstand: Niemand will in ein klassisches Heim. Aber wo ist die Alternative?
  • Individualisierung: Die „alten Leute von morgen“ waren DJs, Grafikdesignerinnen, Aktivist:innen – sie wollen nicht plötzlich Bingo spielen.
  • Digitalisierung: Smart-Home-Systeme machen Betreuung einfacher, ohne Überwachung.

Und: Die Diskussion um Care-Arbeit ist politischer geworden. Es geht um Sichtbarkeit, um feminisierte Arbeit, um Autonomie und Teilhabe im Alter.

Zwischen Care und Kapitalismus

Natürlich ist das alles nicht ohne Widerspruch.
Viele dieser Projekte sind nicht billig. Gerade in Städten wie Berlin oder München sind solche Wohnformen oft nur für Menschen mit kulturellem Kapital und einem gewissen Einkommen zugänglich.

„Wir laufen Gefahr, eine neue Pflegeklasse zu schaffen: die kuratierte Upper-Class-Alters-WG“, warnt Sozialarbeiterin Merve Aksoy, die mit marginalisierten Gruppen arbeitet. „Es ist schön, dass es neue Modelle gibt – aber sie müssen inklusiv gedacht werden, sonst perpetuieren wir nur Ungleichheit mit schönerem Lichtkonzept.“

Was bleibt?

Das Altern ist nicht mehr, was es mal war.
Es wird verhandelt, gestaltet, designed. Die Alten von morgen sitzen nicht still. Sie skizzieren Wohnprojekte, die nicht nach Resignation riechen, sondern nach Perspektive.
Der Rollator ist vielleicht noch da – aber er ist aus gebürstetem Aluminium, fährt autonom und steht in einer Halle mit Parkettboden und Fernsicht.

Wer sagt, dass man mit 80 nicht in einer Bar wohnen kann? Oder mit 70 ein Atelier gründen? Oder mit 65 die Hausausstellung für nächste Woche kuratiert?

Altwerden war lange das Ende. Vielleicht wird’s jetzt – das Danach.

„Revolte in Pastell.“

Es ist ein warmer Samstagvormittag in Neukölln. Auf dem Tempelhofer Feld sitzen dreißig Menschen im Kreis. Sie schweigen. In der Mitte liegen Yogamatten, ein Gong, und ein Flipchart mit der Aufschrift: „Wie können wir kollektiv für ein neues Miteinander wirken?“
Kein Megafon, kein Transparent. Kein „Wir sind hier, wir sind laut!“
Willkommen im Zeitalter der Soft Resistance.

Von der Straße auf die Matte

Politischer Protest in Berlin war lange: laut, dreckig, konfrontativ. Hausbesetzungen, Barrikaden, Riot-Goth-Outfits. Doch die neue Generation der Aktivist:innen geht anders vor. Sie meditieren. Sie malen Plakate mit Aquarellfarben. Sie sprechen in Gendersternen und Kollektiv-Ideen, aber in Stimmen, die kaum über Zimmerlautstärke hinausgehen.

„Wir wollen nicht gegen etwas kämpfen, sondern für etwas da sein“, sagt Livia, 24, Mitgründerin der Gruppe slow change now, die sich für eine sozialökologische Transformation einsetzt – aber eben ohne die klassische Demo-Ästhetik. Stattdessen veranstalten sie „Resonanzräume“, in denen Wut auch mal weinen darf.

Der Protest wird achtsam. Die Revolte ist nicht tot – sie ist nur in Therapie.

Emotionaler Aktivismus statt Pflasterstein

Wer sich in den Szenen rund um Klima, Queerfeminismus, Degrowth oder soziale Gerechtigkeit bewegt, bemerkt schnell: Das politische Vokabular hat sich verändert. Es geht nicht mehr nur um Kapitalismuskritik oder Klassenkampf – sondern um Gefühle. Trauma, Heilung, Safe Spaces, kollektive Care-Strukturen.

Workshops heißen „Wut umarmen“, „System Change durch Nervensystemarbeit“ oder „Radikale Empathie für Systemagent:innen“. Was früher als naiv belächelt worden wäre, wird heute ernst genommen – als notwendige Gegenerzählung zur Burnout-Linken der 2000er-Jahre.

„Wir haben gelernt, dass Dauerwut nicht ausreicht“, sagt Faris, 27, nichtbinär, aktiv bei einer queeren Stadtteilinitiative. „Wir müssen Strukturen schaffen, in denen Menschen überhaupt erstmal wieder spüren können, warum sie handeln wollen.“

Ästhetik des Widerstands: Beige statt Schwarz

Der Look der neuen Protestbewegung ist ebenfalls ein Statement.
Weg vom Hoodie in Schwarz, hin zu Leinen, Second-Hand-Utilitywear und Farben zwischen Salbei und Vanille. Insta-ready, aber nicht inszeniert.
„Revolte in Pastell“, wie jemand auf Twitter sarkastisch schrieb – aber es stimmt. Das Bild hat sich verändert.

Der neue Aktivismus ist weich gezeichnet, oft wortwörtlich: viele Illustrationen, zarte Typografie, freundliche Sprache. Statt Parolen: Fragen. Statt Front: Einladung. Das wirkt harmlos – ist es aber nicht.

„Wir unterschätzen völlig, wie subversiv es ist, in einem System der Dauererregung sanft zu sein“, sagt die Kulturwissenschaftlerin Dana Oertel, die zu „ästhetischer Widerstandspraxis im digitalen Zeitalter“ forscht. „Weichheit wird hier zur Waffe – sie entzieht sich der Logik des Gegenübers, weil sie sich nicht triggern lässt.“

Der stille Schrei

Natürlich gibt’s auch Kritik. Einige werfen der Bewegung Selbstbezogenheit vor. Oder Wohlfühl-Politik. Oder Esoterik-Fetisch. Die Frage bleibt: Verändert sich durch stille Sitzkreise wirklich etwas – oder geht es nur um Selbstbespiegelung?

„Das ist eine gefährliche Unterschätzung“, meint Dana Oertel. „Diese neuen Formen des Protests sind oft radikaler, als sie aussehen. Sie greifen nicht nur die Symbole des Systems an, sondern seine Psychologie. Sie stellen die Idee infrage, dass Politik männlich, laut und konfrontativ sein muss.“

Tatsächlich zeigen erste Beobachtungen, dass diese neue Form der Aktivierung auch andere Zielgruppen anspricht – Menschen, die sich von klassischer Politisierung abgeschreckt fühlten. Menschen mit Diskriminierungserfahrungen, mit psychischer Belastung, mit wenig Vertrauen in staatliche Strukturen.

Soft, aber nicht naiv

Was die „Soft Resistance“ so spannend macht: Sie ist nicht schwach, sondern bewusst weich. Sie will nicht nur Systeme kritisieren, sondern Alternativen verkörpern. Keine Agitprop, sondern Praxis. Kein Entweder-oder, sondern Sowohl-als-auch.

„Wir träumen nicht von einer besseren Welt – wir üben sie ein“, sagt Livia am Ende unseres Gesprächs. Und reicht mir ein handgedrucktes Zine mit dem Titel „Radikale Zärtlichkeit als urbaner Widerstand“. Darin: eine Mischung aus Tagebuchtexten, systemischer Theorie und selbstgemachten Linolschnitten.

Was bleibt?

Berlin wird weicher – aber nicht leiser. Der neue Aktivismus hat die Lautstärke runter- und die Komplexität hochgedreht. Er verhandelt politische Fragen über Emotionen, Körper, Sprache, Nähe. Er polarisiert anders – durch Inklusion statt Abgrenzung. Und er hat eine Vision, die über reinen Protest hinausgeht: Eine Stadt, die nicht nur gerechter, sondern auch heilender ist.

Soft Resistance ist kein Trend. Es ist die Antwort auf eine kaputte Welt – in der die wahre Revolution manchmal darin liegt, zuzuhören, bevor man ruft.

roadmap magazine
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