Berlin wird weich: Die neue Ära der Soft Resistance

„Revolte in Pastell.“

Es ist ein warmer Samstagvormittag in Neukölln. Auf dem Tempelhofer Feld sitzen dreißig Menschen im Kreis. Sie schweigen. In der Mitte liegen Yogamatten, ein Gong, und ein Flipchart mit der Aufschrift: „Wie können wir kollektiv für ein neues Miteinander wirken?“
Kein Megafon, kein Transparent. Kein „Wir sind hier, wir sind laut!“
Willkommen im Zeitalter der Soft Resistance.

Von der Straße auf die Matte

Politischer Protest in Berlin war lange: laut, dreckig, konfrontativ. Hausbesetzungen, Barrikaden, Riot-Goth-Outfits. Doch die neue Generation der Aktivist:innen geht anders vor. Sie meditieren. Sie malen Plakate mit Aquarellfarben. Sie sprechen in Gendersternen und Kollektiv-Ideen, aber in Stimmen, die kaum über Zimmerlautstärke hinausgehen.

„Wir wollen nicht gegen etwas kämpfen, sondern für etwas da sein“, sagt Livia, 24, Mitgründerin der Gruppe slow change now, die sich für eine sozialökologische Transformation einsetzt – aber eben ohne die klassische Demo-Ästhetik. Stattdessen veranstalten sie „Resonanzräume“, in denen Wut auch mal weinen darf.

Der Protest wird achtsam. Die Revolte ist nicht tot – sie ist nur in Therapie.

Emotionaler Aktivismus statt Pflasterstein

Wer sich in den Szenen rund um Klima, Queerfeminismus, Degrowth oder soziale Gerechtigkeit bewegt, bemerkt schnell: Das politische Vokabular hat sich verändert. Es geht nicht mehr nur um Kapitalismuskritik oder Klassenkampf – sondern um Gefühle. Trauma, Heilung, Safe Spaces, kollektive Care-Strukturen.

Workshops heißen „Wut umarmen“, „System Change durch Nervensystemarbeit“ oder „Radikale Empathie für Systemagent:innen“. Was früher als naiv belächelt worden wäre, wird heute ernst genommen – als notwendige Gegenerzählung zur Burnout-Linken der 2000er-Jahre.

„Wir haben gelernt, dass Dauerwut nicht ausreicht“, sagt Faris, 27, nichtbinär, aktiv bei einer queeren Stadtteilinitiative. „Wir müssen Strukturen schaffen, in denen Menschen überhaupt erstmal wieder spüren können, warum sie handeln wollen.“

Ästhetik des Widerstands: Beige statt Schwarz

Der Look der neuen Protestbewegung ist ebenfalls ein Statement.
Weg vom Hoodie in Schwarz, hin zu Leinen, Second-Hand-Utilitywear und Farben zwischen Salbei und Vanille. Insta-ready, aber nicht inszeniert.
„Revolte in Pastell“, wie jemand auf Twitter sarkastisch schrieb – aber es stimmt. Das Bild hat sich verändert.

Der neue Aktivismus ist weich gezeichnet, oft wortwörtlich: viele Illustrationen, zarte Typografie, freundliche Sprache. Statt Parolen: Fragen. Statt Front: Einladung. Das wirkt harmlos – ist es aber nicht.

„Wir unterschätzen völlig, wie subversiv es ist, in einem System der Dauererregung sanft zu sein“, sagt die Kulturwissenschaftlerin Dana Oertel, die zu „ästhetischer Widerstandspraxis im digitalen Zeitalter“ forscht. „Weichheit wird hier zur Waffe – sie entzieht sich der Logik des Gegenübers, weil sie sich nicht triggern lässt.“

Der stille Schrei

Natürlich gibt’s auch Kritik. Einige werfen der Bewegung Selbstbezogenheit vor. Oder Wohlfühl-Politik. Oder Esoterik-Fetisch. Die Frage bleibt: Verändert sich durch stille Sitzkreise wirklich etwas – oder geht es nur um Selbstbespiegelung?

„Das ist eine gefährliche Unterschätzung“, meint Dana Oertel. „Diese neuen Formen des Protests sind oft radikaler, als sie aussehen. Sie greifen nicht nur die Symbole des Systems an, sondern seine Psychologie. Sie stellen die Idee infrage, dass Politik männlich, laut und konfrontativ sein muss.“

Tatsächlich zeigen erste Beobachtungen, dass diese neue Form der Aktivierung auch andere Zielgruppen anspricht – Menschen, die sich von klassischer Politisierung abgeschreckt fühlten. Menschen mit Diskriminierungserfahrungen, mit psychischer Belastung, mit wenig Vertrauen in staatliche Strukturen.

Soft, aber nicht naiv

Was die „Soft Resistance“ so spannend macht: Sie ist nicht schwach, sondern bewusst weich. Sie will nicht nur Systeme kritisieren, sondern Alternativen verkörpern. Keine Agitprop, sondern Praxis. Kein Entweder-oder, sondern Sowohl-als-auch.

„Wir träumen nicht von einer besseren Welt – wir üben sie ein“, sagt Livia am Ende unseres Gesprächs. Und reicht mir ein handgedrucktes Zine mit dem Titel „Radikale Zärtlichkeit als urbaner Widerstand“. Darin: eine Mischung aus Tagebuchtexten, systemischer Theorie und selbstgemachten Linolschnitten.

Was bleibt?

Berlin wird weicher – aber nicht leiser. Der neue Aktivismus hat die Lautstärke runter- und die Komplexität hochgedreht. Er verhandelt politische Fragen über Emotionen, Körper, Sprache, Nähe. Er polarisiert anders – durch Inklusion statt Abgrenzung. Und er hat eine Vision, die über reinen Protest hinausgeht: Eine Stadt, die nicht nur gerechter, sondern auch heilender ist.

Soft Resistance ist kein Trend. Es ist die Antwort auf eine kaputte Welt – in der die wahre Revolution manchmal darin liegt, zuzuhören, bevor man ruft.

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