„Alt werden ist das neue Ausgehen.“
In einer ehemaligen Nudelfabrik in Leipzig-Connewitz steht ein Wohnprojekt, das aussieht wie ein Boutique-Hotel für Designliebhaber:innen. In der Küche: ein Terrazzo-Waschbecken. Im Flur: eine kleine Ausstellungsfläche für wechselnde Kunstprojekte. An der Tür: Klingelschilder mit Vornamen und Pronomen.
Nur: Die Jüngste hier ist 48. Die Älteste 87.
Willkommen im Zeitalter der ästhetisierten Altersarchitektur – oder, wie es die Bewohner:innen nennen: „kuratiertes Altern“.
Aging with style
Millennials altern. Und sie tun es nicht in Stille.
Sie googeln „Co-Housing“, abonnieren Podcasts über Care-Strukturen und posten Moodboards mit altersgerechten Möbeln auf Pinterest. Die Boomer hatten Eigentum – Gen Y hat ästhetische Vorstellungen davon, wie man gepflegt grau wird.
Das Pflegeheim von morgen? Kein klinischer Albtraum mit Rollos in Beige – sondern ein durchdesigntes Gemeinschaftsprojekt mit Flex-Zimmern, geteiltem Biogarten und einer eigenen Insta-Page.
„Alt werden ist das neue Ausgehen“, schreibt jemand auf Threads. Und er hat nicht ganz unrecht.
Das Ende der Einsamkeit in Eiche rustikal
Die klassischen Modelle – stationäre Pflege, betreutes Wohnen, Mehrgenerationenhaus – erleben gerade eine stille Revolution. Nicht durch die Politik, sondern durch kreative Selbstermächtigung.
Architekt:innen, Designer:innen und Sozialutopist:innen arbeiten an neuen Formaten: modulare Wohnkomplexe, soziale Kollektive, Care-Commons, oft initiiert von Menschen, die selbst noch lange nicht pflegebedürftig sind – aber auch nicht mehr 25.
„Wir wollten nicht darauf warten, dass der Staat uns irgendwann eine Lösung serviert“, sagt Tanja Malz, Architektin und Mitgründerin von ‘zeitlos wohnen’, einem Projekt, das altersfreundliches Bauen mit Raum für Kultur und Nachbarschaft verbindet. „Also haben wir’s selbst gemacht.“
Ihr Projekt in Hamburg-Altona wurde 2024 mit einem Architekturpreis ausgezeichnet. Die Jury lobte das „nicht institutionell wirkende Raumgefühl“. Man könnte auch sagen: Hier riecht es nach frischem Kaffee, nicht nach Desinfektionsmittel.
Flexibilität statt Flurlicht
Zentrale Idee vieler neuer Konzepte: Flexibilität. Die Wohnungen sind modular – können zusammengelegt oder getrennt werden. Gästezimmer werden zu Pflegeräumen. Ateliers zu Ruheoasen.
„Wir haben früh verstanden: Altern ist nicht linear. Man will nicht von 0 auf 100 ins Pflegebett, sondern Übergänge gestalten“, erklärt Malz.
Deshalb sind viele Projekte prozessorientiert. Es gibt keine starren Pflegestufen, sondern ein wachsendes Netzwerk aus Unterstützung – von Physiotherapie über gemeinsames Kochen bis zur digitalen Sprechstunde mit einer Pflegekraft. Alles mit Designanspruch, versteht sich.
Der Kurator für den Hausflur
Besonders spannend: die Rolle von Kultur in diesen Projekten.
In einem Projekt in der Uckermark wird der Hausflur von einer Kuratorin bespielt – mit wechselnden Ausstellungen von Bewohner:innen oder eingeladenen Künstler:innen.
In einem anderen gibt es ein offenes Lesecafé mit DJ-Pult, das tagsüber für Lesekreise und abends für kleine Konzerte genutzt wird.
„Die Idee ist: Wenn das Leben ruhiger wird, muss die Umgebung nicht tot sein“, sagt Jonas Wilken, Designer für raumbezogene Altersformate. Er sieht seine Arbeit als „soziales Design für das Danach“.
Und fügt hinzu: „Altern ist nicht der Endgegner – es ist einfach ein anderer Rhythmus.“
Was steckt dahinter?
Dass sich ein neuer Umgang mit Alter und Pflege entwickelt, hat viele Gründe:
- Demografie: Die Babyboomer gehen in Rente, und die nächste Generation schaut sich das genau an.
- Pflegenotstand: Niemand will in ein klassisches Heim. Aber wo ist die Alternative?
- Individualisierung: Die „alten Leute von morgen“ waren DJs, Grafikdesignerinnen, Aktivist:innen – sie wollen nicht plötzlich Bingo spielen.
- Digitalisierung: Smart-Home-Systeme machen Betreuung einfacher, ohne Überwachung.
Und: Die Diskussion um Care-Arbeit ist politischer geworden. Es geht um Sichtbarkeit, um feminisierte Arbeit, um Autonomie und Teilhabe im Alter.
Zwischen Care und Kapitalismus
Natürlich ist das alles nicht ohne Widerspruch.
Viele dieser Projekte sind nicht billig. Gerade in Städten wie Berlin oder München sind solche Wohnformen oft nur für Menschen mit kulturellem Kapital und einem gewissen Einkommen zugänglich.
„Wir laufen Gefahr, eine neue Pflegeklasse zu schaffen: die kuratierte Upper-Class-Alters-WG“, warnt Sozialarbeiterin Merve Aksoy, die mit marginalisierten Gruppen arbeitet. „Es ist schön, dass es neue Modelle gibt – aber sie müssen inklusiv gedacht werden, sonst perpetuieren wir nur Ungleichheit mit schönerem Lichtkonzept.“
Was bleibt?
Das Altern ist nicht mehr, was es mal war.
Es wird verhandelt, gestaltet, designed. Die Alten von morgen sitzen nicht still. Sie skizzieren Wohnprojekte, die nicht nach Resignation riechen, sondern nach Perspektive.
Der Rollator ist vielleicht noch da – aber er ist aus gebürstetem Aluminium, fährt autonom und steht in einer Halle mit Parkettboden und Fernsicht.
Wer sagt, dass man mit 80 nicht in einer Bar wohnen kann? Oder mit 70 ein Atelier gründen? Oder mit 65 die Hausausstellung für nächste Woche kuratiert?
Altwerden war lange das Ende. Vielleicht wird’s jetzt – das Danach.