Glossar am Ende des Artikels.
„Die Stadt denkt schon für dich mit – ob du willst oder nicht.“
Wer morgens durch Berlin-Mitte läuft, denkt nicht sofort an Künstliche Intelligenz. Zwischen E-Rollern, Coffee-to-go und gestressten Menschen in Leggings wirkt der Alltag ziemlich analog. Und doch ist die Stadt längst hybrid. Unter der Oberfläche ihrer physischen Infrastruktur läuft eine zweite Schicht mit – ein digitales Betriebssystem, das immer intelligenter wird. Es organisiert Verkehrsflüsse, überwacht Risikozonen, verteilt Ressourcen und plant teilweise sogar die nächste Bebauung. Die Stadt denkt. Und sie lernt. Nur fragt sie niemanden, ob das okay ist.
„Algorithmen sind nicht neutral – sie spiegeln gesellschaftliche Verzerrungen.“ – Lara Benkhoff, Stadtethikerin.
Predictive Policing: Minority Report, aber real
Beginnen wir mit dem offensichtlich Unheimlichen: Predictive Policing. Das Prinzip ist einfach – mithilfe historischer Daten, Kriminalitätsstatistiken und Echtzeitbeobachtungen berechnet eine KI, wo es „bald wieder knallen“ könnte. In den USA längst Realität, testweise auch in Europa. Was wie ein Effizienzversprechen klingt („Prävention statt Reaktion“), führt oft zu Zirkelschlüssen: Weil ein Stadtteil als „Problemzone“ markiert wurde, schickt man mehr Polizei hin – was wiederum mehr Vorfälle produziert – was die KI dann als Bestätigung liest. Eine selbsterfüllende Statistik-Spirale.
Der Soziologe David Lyon nennt das „surveillance capitalism with urban flavor“. In deutschen Städten wie Hamburg oder Köln sind Pilotprojekte in der Diskussion – unter dem Radar, versteht sich. Denn wer will schon in einer Stadt leben, die dich algorithmisch vorverurteilt?
Verkehrsfluss à la Skynet
Weniger bedrohlich, aber ebenso KI-gesteuert, ist der Bereich Mobilität. Ampelschaltungen, Busfrequenzen, Shared Mobility – das alles wird zunehmend datengetrieben optimiert. Klingt erstmal gut: weniger Stau, mehr Effizienz, weniger Emissionen. Aber auch hier: Wer entscheidet, was optimiert wird – und für wen?
Ein Beispiel: Wenn eine Stadt KI-gestützt erkennt, dass reiche Bezirke morgens stark frequentiert werden, werden dort eventuell mehr Verkehrsmittel angeboten. Klingt logisch. Aber ist das auch gerecht? „Datenbasierte Entscheidungen haben die Tendenz, bestehende Machtverhältnisse zu verstärken“, sagt die Stadtethikerin Lara Benkhoff im Gespräch mit roadmap. „Denn Algorithmen sind nicht neutral – sie spiegeln gesellschaftliche Verzerrungen.“
KI-Stadtplanung: Beton aus dem Baukasten
Und dann ist da noch die neue Krone der Urban-Tech-Schöpfung: KI-generierte Stadtplanung. In den Niederlanden arbeiten Planungsbüros mit Machine-Learning-Tools, die neue Stadtteile auf Basis von Parametern wie Sonnenlicht, Schallschutz oder Energieeffizienz entwerfen. Ganze Quartiere entstehen aus dem Rechenzentrum – effizient, nachhaltig, durchdesignt.
Aber auch steril? „Die Gefahr besteht, dass wir eine neue Ästhetik der Glattheit erschaffen“, meint Benkhoff. „Wenn alles nur noch nach Optimierung funktioniert, geht das Chaotische, das Überraschende verloren – das, was eine Stadt eigentlich lebendig macht.“ Statt organischem Wachstum erleben wir dann algorithmische Gestaltungsdiktate – den urbanen Äquivalent zu KI-generierten Stockfotos: hübsch, aber seelenlos.
Wem gehört der Stadtkörper?
Was bei all dem vergessen wird: Eine Stadt ist kein rein funktionales System. Sie ist ein soziales Wesen, ein politischer Raum, ein widersprüchlicher Organismus. KI hingegen liebt Klarheit, Zielorientierung, Muster. Sie kann Risiken berechnen – aber keine Utopien spinnen. Sie versteht keine Ironie, keine Aneignung, keinen Street-Style. Und sie kennt keine Armut, außer als Variable.
Die Frage ist also: Wer gestaltet den Stadtkörper von morgen? Tech-Unternehmen wie Sidewalk Labs (Alphabet) hatten große Pläne, ganze Stadtteile in Toronto umzubauen – mit Sensoren, Kameras, Datentracking. Die Bewohner:innen rebellierten. Das Projekt wurde eingestellt.
Was bleibt?
Urban AI ist keine Dystopie. Aber sie ist auch kein Heilsbringer. Sie ist Werkzeug – mit enormer Reichweite. Die große Herausforderung besteht darin, sie nicht einfach „machen zu lassen“, sondern eine öffentliche Debatte darüber zu führen, was Stadt eigentlich bedeuten soll.
Wollen wir Quartiere, die sich selbst regulieren – oder solche, in denen es Platz für das Ungeplante gibt? Wollen wir smarte Überwachung oder dumme Freiheit? Wollen wir, dass KI entscheidet, wo wir wohnen, wie wir fahren, wann wir sicher sind?
Die Zukunft der Stadt wird gerade geschrieben. Nicht mit Spraydose und Pflasterstein – sondern mit Codezeilen und Trainingsdaten. Höchste Zeit, dass wir mitreden.
Glossar: Urban AI und smarte Städte erklärt
Urban AI
Künstliche Intelligenz im städtischen Raum. Bezieht sich auf den Einsatz von Machine Learning, neuronalen Netzwerken und automatisierten Entscheidungsprozessen zur Steuerung urbaner Systeme – von Verkehr über Stadtplanung bis zur öffentlichen Sicherheit.
Predictive Policing
Ein datenbasiertes System zur „vorausschauenden“ Kriminalitätsbekämpfung. Durch Auswertung vergangener Vorfälle soll vorhergesagt werden, wo und wann ein Verbrechen wahrscheinlich passiert – oft problematisch, weil es bestehende Vorurteile algorithmisch reproduziert.
Smart City
Buzzword der Urbanisierung seit den 2010ern. Gemeint ist eine digital vernetzte Stadt, in der Infrastruktur, Mobilität, Energieversorgung und Kommunikation durch Technik effizienter und nachhaltiger gemacht werden sollen. Oft ohne demokratische Kontrolle.
Generative Urbanism
Ein Planungsansatz, bei dem urbane Räume durch generative KI gestaltet werden – also durch Algorithmen, die selbstständig neue Layouts, Architekturen oder Verkehrsnetze „entwerfen“, basierend auf vordefinierten Parametern wie Klima, Bevölkerungsdichte oder Lärm.
Surveillance Capitalism
Begriff der Soziologin Shoshana Zuboff. Beschreibt ein ökonomisches System, in dem persönliche Daten – auch aus dem öffentlichen Raum – zur kommerziellen Verwertung gesammelt und verwendet werden. In der Smart City wird Überwachung zur Infrastruktur.
Stadtethik
Interdisziplinäres Forschungsfeld an der Schnittstelle von Urbanistik, Soziologie und Philosophie. Behandelt Fragen wie: Wem gehört die Stadt? Wer darf mitbestimmen? Was ist ein gerechter urbaner Raum? Besonders relevant bei KI-Einsatz, da dieser selten hinterfragt wird.