Am Samstagabend starb am S-Bahnhof Nikolassee ein 19-Jähriger nachdem er beim S-Bahn-Surfen mit einer Signalbrücke kollidierte.
Leider muss man solche Nachrichten immer noch lesen, runterwürgen und verdauen – trotz der erst vor zwei Wochen auftretenden schweren Unfälle, die ein 14 und ein 15-Jähriger bei dieser zweifelsohne grandiosen Freizeit-Aktivität erlitten. Am Samstag sprangen zwei Jugendliche am S-Bahnhof Botanischer Garten von einer Brücke auf das Dach der S-Bahn Linie 1. Die Strecke ist besonders beliebt, da die Haltestellen weit auseinander liegen. Die Beiden fuhren sogar fünf Stationen unbeschadet, angeblich freudig winkend und euphorisch mit, bevor sich das Unglück kurz vor Einfahrt in Nikolassee ereignete. Für den 19-Jährigen, den es erfasste, kam am Samstag nach dem Aufprall mit der Brücke jede Hilfe zu spät. Sein ein Jahr jüngerer Begleiter konnte ihn auf dem Dach des Wagons festhalten, bis die S-Bahn die Haltestelle erreichte. Die Sanitäter übernahmen dort und konnten nur noch den Tod feststellen. Kaum auszudenken, was passieren hätte können, wäre der Junge ins Gleisbett gefallen. Es ist tragisch und verstörend, keine Frage. Alles an Mitgefühl und Beileid gebührt den Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten des Verstorbenen. Sie haben nun die größte und schmerzhafteste Last zu tragen. Aber es führt auch zu unzähligen Fragen, ist zehrend und nervenaufreibend für Mitbeteiligte und unfreiwillig in Mitleidenschaft Gezogene.
Wieso S-Bahn Surfen nicht nur für Surfer Risiken birgt
Punkt eins: Ihr könnt dabei sterben. Und das auf unschöne, schmerzhafte Weise. Punkt aus basta. An zweiter Stelle ganz klar: Gelangt ein Gegenstand, egal welcher Natur, aber ab einer bestimmten Größe auf das Gleis, kann es zu schweren Unfällen kommen. Im schlimmsten Fall sogar zu Entgleisungen. Dass hierbei auch Passagiere und Fahrer verletzt werden können, sollte jedem Kind bewusst sein. Drittens: Ihr zerstört auch das Leben anderer Menschen damit. Ein Beispiel: An eben diesem Samstag fuhr eine meiner besten Freundinnen in der S1 mit. Es ist natürlich unglaublich toll in der S-Bahn zu sitzen, einen ruhigen Samstagabend beginnen zu wollen und dann vom Geräusch eines aufklatschenden Körpers, Schreien, besorgten Blicken und Unmengen Blut aufgeschreckt zu werden. Ich will gar nicht wissen, wie sich meine Freundin zitternd und verstört nach der Ankunft am Bahnhof, gemeinsam mit anderen Passagieren aufs Gleis bewegt hat, wie sie es geschafft hat, sich dann in die entgegengesetzte Bahn zu setzen und schnurstracks wieder nach Hause zu fahren.
Wie es dich, deine Freunde und andere beeinflusst
Ich erhielt dann knapp 40 Minuten später einen Anruf von ihrer Mitbewohnerin, die fragte ob ich wüsste was man bei einem Schockzustand machen soll. Ich erfuhr vom Zwischenfall, machte mich etwas wackelig auf den Weg zu ihnen um Ablenkung und Liebe zu spenden und fand sie vollkommen aufgelöst und weinend vor. Man konnte ihr am Gesicht ablesen, dass sie jeden Moment, jedes Geräusch, jedes Gefühl, jeden Tremor des Aufpralls noch klar vor Augen hatte. Alles gerade frisch auf die Retina gebrannt und vom Gehirn so abgespeichert, dass man sobald man etwas zur Ruhe kommt jedes Detail wieder genau vor sich sieht. Wenn man die Augen schließt, weil man schlafen möchte, während man sich alleine im Badezimmer befindet und die Zähne putzt, während man etwas zu Essen vorbereitet. Es wird sie wahrscheinlich noch eine gute Weile verfolgen, auch wenn sie sich am nächsten Tag mutig dazu überwand normale Abläufe einzuhalten und in die S-Bahn zu steigen. So wird es noch vielen anderen gehen, die im Abteil saßen. Jetzt multipliziert man diesen Schockzustand mal 100 und erhält ungefähr das Befinden des begleitenden Surfers…Fahrer und Mitfahrer erleiden psychisch einfach eine große Belastung. Meine Freundin ist eine extrem starke Frau – ich weiß, dass sie viel weggesteckt hat und das auch noch gut verarbeiten wird, weil sie liebevolle Menschen in Ihrem Leben hat. Aber wie geht es Kindern und älteren Herrschaften, die bei sowas mit dabei sein müssen? Oder Personen die weniger stabil sind? Und dann denke man wieder an die Familie und Freunde…
Wieso macht ihr das?
Was einfach nicht in meinen Kopf will ist, dass man keinerlei feuchten Furz auf die eventuellen Konsequenzen gibt. Ich will kein Unmensch sein, aber wieso macht man sowas? Was bewegt einen dazu, auch das Leben anderer aufs Spiel zu setzen und andere Menschen die traumatischen Folgen tragen zu lassen? Habt Ihr daheim Kummer? Da gibt’s Anlaufstellen für. Die Überwindung dafür aufzubringen ist mindestens genauso groß, wie die die man haben muss, um sich auf ein Bahn-Dach zu schmeißen. Ist was Schlimmes passiert und ihr wollt euch den Schmerz so von der Seele laden? Es gibt zig Möglichkeiten dies zu tun, ohne gleich eure Existenz damit zu gefährden. Menschen, die euch dabei zuhören könnten, Menschen denen etwas an euch liegt. Ich meine, klar ist es eure Verantwortung und eigentlich wisst ihr ja auch bis zu einem gewissen Grad bestimmt was ihr tut. Aber irgendwo passiert dann ein Kurzschluss und es wird nicht weitergedacht. Abgeschaltet. Adrenalin? Hormone? Funken die da dazwischen? Wem wollt ihr damit imponieren?
Denkt ihr nicht an eure Familien, wenn ihr dabei seid sowas Dummes zu unternehmen? Oder denkt ihr gerade daran und wollt euch dadurch davon frei machen? Denkt ihr nicht an den Moment in dem sie einen Anruf erhalten und ihnen gesagt wird, dass ihr Kind beim Aufschlagen mit einer Brücke beim S-Bahn Surfen an den Folgen gestorben ist? Denkt ihr daran, wie das Leben eurer Geschwister nach eurem Verlust aussehen könnte? Das eurer Eltern? Denkt ihr daran, dass es schwer werden kann, eure entstellten Körper für einen offenen Sarg herzurichten? Dass etliche Ermittler daran sitzen um herauszufinden, ob ihr betrunken oder auf Droge wart, damit Sie Fremdursachen miteinbeziehen oder ausschließen können? Dass Reinigungskräfte damit zu tun haben werden, eurer Blut mit Sand zu bedecken und den Steig zu säubern. Vielleicht können die gar kein Blut sehen? Denkt ihr daran, dass wenn es euch erwischt, es vielleicht durch eure Schuld auch euren Surf-Kumpanen runterreißt? Denkt ihr daran, dass wenn ihr zwischen die Gleisen geratet, eventuell so zu Geschnetzeltem verarbeitet werdet, dass man eure Überreste in stundenlanger Arbeit zusammensuchen muss? Geht es euch so schlecht, dass es euch egal ist dieses Risiko auf euch zu nehmen?
Was ihr stattdessen unternehmen könntet
Ich verstehe, dass man sich vor allem als junger Mensch unbesiegbar, unsterblich und dazu fähig fühlt, es mit allem aufzunehmen. Ich verstehe, dass ein Adrenalinrausch was Feines ist, und auch dass man sich mal einen Kick verpassen will. Aber könnt ihr das nicht auf nur eure Kosten machen? Davor Inne halten und mal alles durchspielen, was so in die Hose gehen kann? Oder einfach mal Bungeejumpen, Fallschirmspringen, in den Kletterpark gehen, den höchsten der Bäume besteigen, Paragliden? Parcour lernen, bewusst als Sport betreiben und „sichere“ Routen ausprobieren, boxen gehen? Da gibt’s auch Risiken, nur sind die wesentlich kontrollierter, betreffen meist nur euch. Geht Sprayen (nicht in Bahn-Tunneln). Das ist zwar auch nicht das Gelbe vom Ei, wenn ihr untalentiert seid, ärgert ‘ne ganze Menge Leute und ist meistens illegal, aber ihr verliert dabei nicht den Kopf. Geht mit eurer kleinen Schwester Hand in Hand in den Park und haltet ihre rosa Luftballons vor allen Anwesenden fest. Kauft Tampons ein und lasst euch erklären wie man sie benutzt. Macht einen irre beschissenen Tanzkurs mit der Freundin und durchlebt Blamage nach Blamage. Das ist doch Action genug.
Wenn ihr zu viel Energie habt, dann investiert sie in etwas Substantielles. Lernt was Cooles, wie Kickboxen oder Full Body Combat. Wollt ihr Aufregung und Action in eurem Leben? Dann mistet den Elefantenkäfig oder das Pumagehege im Zoo aus, nachdem die Tiere Durchfall hatten. Geht auf eine Demo, die nicht euren Ansichten entspricht und tut das dort kund. Lauft dann einige Meter mit und hört euch das Kontra an, lasst euch zur Sau machen. Macht ein Praktikum in der Notaufnahme, geht Blut und Knochenmark spenden, seid bei einer Geburt dabei. Testet eure Grenzen aus indem ihr in einen Fetischclub, eine Gaybar oder Nacktschwimmen geht. Macht Nachtwanderungen im Wald oder auf dem Friedhof, lasst Handy und Taschenlampe daheim. Wenn ihr solches dunkle und leichtsinnige Verlangen habt, dann sprecht darüber, treibt es euch und euren Freunden gegenseitig aus. Fühlt ihr euch dazu gezwungen, dann lasst es bleiben, seid besser, als der Gruppenzwang. Hetzt euren Kumpanen die Bullen auf den Hals, das was Ihr euch danach von ihnen anhören dürft ist risikoreicher, als alles andere. Vielleicht werdet ihr ja auch von ihnen verprügelt. Findet verantwortungsbewusste Alternativen, denn die gibt es massenweise. Hört auf, euch und andere in Gefahr zu bringen und lasst so einen Quark wie S-Bahn Surfen ganz sein.
Auto: Anna Lazarescu
Bilder: Fotolia.de